Die Vertreibung aus dem Paradies
Vor ein paar Jahren wurde ich Opfer einer sexuellen Belästigung. Und ohne Zweifel wurde das zur wichtigsten Erfahrung meines Erwachsenenlebens. Natürlich nicht die Belästigung selbst. Auf die hätte ich verzichten können. Aber der Verstehens- und Veränderungsprozess, den sie ausgelöst hat. Trennen lassen sich beiden wohl leider nicht.
Wahrscheinlich kann ich das so nur sagen, weil ich ein Mann bin. Und auch erst jetzt im Rückblick. Ich weiß nicht, ob ich diese unangenehme Erfahrung verdient hatte. Kein Mensch hat es verdient, wie ein Objekt behandelt zu werden und sich ohnmächtig und ausgeliefert zu fühlen. Aber Zeit war es gewesen. Mit mir hat es einen der Richtigen erwischt. Einen, der so eine Erfahrung anscheinend gebraucht hat.
Was passiert ist, ist schnell erzählt: Ein anderer Mann belästigte mich wiederholt in einem Fitnessstudio in Vietnam. Es war ein Mini-Drama in drei Akten, das ich hier umfangreich beschrieben habe. Beim ersten Mal fasste er mir in der Sauna zweimal ungefragt in den Schritt. Beim zweiten Mal, ein paar Wochen später, fasste er mir an den Knöchel und riss meine Beine auseinander, um ungestört das beglotzen zu können, was er beim ersten Mal angefasst hatte. Und beim dritten Mal schließlich, wieder ein paar Wochen später, verfolgte er mich durch das gesamte Fitnessstudio.
Er machte mich zum Flüchtling.
Mit seiner schwitzigen Hand riss er mich aus meiner Heimat: meiner wunderschön weißstrahlenden Männerwelt, die nun für immer verloren ist. Manchmal sehne ich mich nach ihr, nach der Glückseligkeit der Unwissenheit und der Abwesenheit wirklich unangenehmer Gefühle. Dort konnte ich mich so schön aufs Leben konzentrieren und musste mich nicht mit dem Überleben herumschlagen. Meine Heimat war ein Ort, wo ich keine Zweifel hatte. Ich wusste genau, wer ich war und was ich zu tun hatte. Und um mich herum passten sich alle an mich und meine Bedürfnisse an. Auch Angst musste ich keine haben, weil andere Angst vor mir hatten – ohne dass ich davon etwas mitbekommen hätte. Ich lebte in dem Luxus, dass mein Wille und Selbstbestimmungsrecht zählten. Niemand – weder Fremde noch Familie – behandelten mich je wie ein Objekt. Seit ich denken kann, hatte ich keine bewusste Ohnmachtserfahrung erlebt.
In meiner Welt konnte ich mich der Illusion hingegeben, dass wir Männer und Frauen in der gleichen Welt lebten – in meiner. Die Emanzipation war ein voller Erfolg gewesen und bereits vollendet: unsere Lebenswirklichkeiten hatten sich angeglichen und was wir von anderen und dem Leben erwarten konnten auch. Für mich war unser Blick auf die Welt gleich gewesen.
Natürlich hatte ich immer irgendwie den Verdacht gehabt, dass es vielleicht doch so etwas wie einen Geschlechtergraben gibt. Eine Bruchstelle zwischen den Erfahrungen, die in dieser Welt auf uns warten. Wirklich springen oder dorthin hinabsteigen wollte ich aber nie. Ich musste geschubst werden. Von einem anderen Mann.
Auf diesen Sturz reagierte ich mit großer Verwirrung und Orientierungslosigkeit. Ich weiß noch, wie ich nach der zweiten Belästigung, dem Knöchelgriff, nach Hause kam und mich meine damalige Freundin besorgt begrüßte. „Ist jemand gestorben“, fragte sie. Nein, hätte ich gerne geantwortet, nur ein Teil von mir. Aber das wusste ich ja zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. An den Rest des Abends kann ich mich kaum erinnern. Nur noch, dass ich irgendwann auf unserem Bett sitze und versuche meine Hose auszuziehen. Meine Finger verkrampfen sich und ich schaffe es einfach nicht, meinen Gürtel zu öffnen.
Irgendwas werde ich meiner Freundin zuvor erzählt und dabei irgendwas zusammengestottert haben. Wahrscheinlich konnte ich zumindest die äußeren Fakten wiedergeben: wer, wo, wann, was, welche Hand wo? Aber was nutzt es schon, die Spitze des Eisbergs zu beschreiben?
An diesem Abend wurde mir zum ersten Mal offenbar, dass ich keine Sprache hatte für das, was mir widerfahren war. Ich konnte die Ereignisse und meine Gefühle dazu weder in Einklang bringen noch artikulieren. Das hielt mich aber nicht davon ab, in den folgenden Wochen und Monaten immer und immer wieder über beides zu sprechen. Durch die schiere Wiederholung und die Reaktionen und Fragen meiner Zuhörer*innen, versuchte ich, dem tieferen Sinn dieses Erlebnisses auf den Grund zu kommen.
Statt kleiner wurde meine Verwirrung aber mit der Zeit nur größer. Das lag zum einen daran, dass ich im Fitnessstudio gelegentlich auf meinen Peiniger traf und darauf für mich immer unverständlicher reagierte. Anfänglich konnte ich ihm noch aus dem Weg gehen und ihn ignorieren. Aber mit jeder weiteren Sichtung wurde ich zunehmend von Wut, Ekel und Panik erfasst und musste mit Herzrasen das Fitnessstudio verlassen.
Und zum anderen erzählte ich die Geschichte falsch. Im Nachhinein finde ich es faszinierend, welchem Wandel sie die ersten Monate ausgesetzt war. Zu Beginn stilisierte ich die Vorkommnisse vor allem zu einer exotischen Skurrilität. Ich folgte meinem erfolgserprobten Programm und zog alles ins Lächerliche. Ernst und Verwundbarkeit – so hatte ich es von früh auf verinnerlicht – machen einsam in meiner Männerwelt. Bei den stummen und mitleidigen Blicken, die man in solchen Momenten erntet, ist nie klar, ob sie den geschilderten Ereignissen gelten oder der Reaktion, d.h. einem selbst und seinem offensichtlichen Versagen.
Also begann ich, mich an mein Publikum anzupassen und erzählte Männern und Frauen verschiedene Versionen meiner Geschichte. Viele Frauen spürten nämlich instinktiv einen Widerspruch zwischen meiner unterhaltsamen Version und den Gefühlen, die sie doch in mir auslösen musste. Sie fragten nach an den Stellen, wo sie Unwohlsein vermuteten, ich es aber nicht zum Ausdruck brachte. Oft ermutigten sie mich, diesem Unwohlsein nachzugehen. Sie fanden das Geschilderte oft überhaupt nicht skurril oder lustig, sondern erkannten darin eigene belastende oder gar traumatische Erlebnisse wieder.
Viele Männer hingegen spürten nicht, dass ich sie und mich selbst großspurig belog. Aber einen Vorwurf kann ich ihnen daraus schlecht machen: wie hätte ich von ihnen erwarten können, meine Verwirrung angesichts dieser Situation zu verstehen und auszuhalten, wenn ich sie selbst nicht verstehen und aushalten konnte?
Beim Erzählen habe ich mich selbst und meine Zuhörer oft geschont. Bis das irgendwann nicht mehr ging. Es entstand eine zunehmende Spannung zwischen meiner eingeübten Story und den Gefühlen, die sich mittlerweile dazu eingestellt hatten. Irgendetwas war erwacht. Die alte Platte begann mich zu irritieren. Ich wurde mir selbst fremd – und zunehmend auch die Männer in meinem Umfeld.
Ein paar Wochen nachdem ich meinen Peiniger das letzte Mal gesehen hatte und er mich bei dieser Gelegenheit durch das Fitnessstudio verfolgt hatte, flog ich zurück nach Deutschland. Ich wollte den Sommer in Berlin verbringen. An einem Sonntag lud mich mein Freund Roger zu sich ein, in seine Penthouse-Wohnung mit Blick über die Stadt. Unser gemeinsamer Freund Michael war auch da. Ich weiß noch, wie bei meiner Ankunft der Geruch von Kaffee aus Rogers Nespresso-Maschine in der Luft lag. Die beiden hatten es sich auf der Couch gemütlich gemacht und tranken Gimlets.
Wir hatten uns seit einigen Monaten nicht gesehen und es war viel passiert. Für Smalltalk hatte ich keine Geduld. Aber ich hatte mir auch nicht überlegt, wie und warum ich den beiden erzählen wollte, was mir in Hanoi passiert war. Sie waren meine Freunde, und ich hatte die Hoffnung, dass sie mir dabei helfen würden, das Geschehen einzuordnen. Sie waren beide über 15 Jahre älter als ich und beruflich sehr erfolgreich. Also ging ich davon aus, dass sie sich mit solchen Sachen auskennen und mir dabei helfen würden, mich selbst besser zu verstehen. Ich muss tatsächlich sehr verirrt gewesen sein in dieser Zeit.
Kurz nach der Begrüßung platzte ich mit meiner Geschichte heraus. Vielleicht erzählte ich sie mal wieder falsch, im falschen Ton: schaut her, was mir wieder Interessantes passiert ist! Vielleicht genoss ich es sogar, mal wieder die schrägste Geschichte im Raum zu haben. Aber weit kam ich eh nicht.
„Ja, das kenne ich genau! Mir hat in einem Club auch mal ein Schwuler an den Arsch gefasst.“
Ich verdrehte die Augen. Ja, sicher, mir auch. Das passiert in Clubs nun einmal. Das kann man aber nicht wirklich vergleichen. Und das musste doch eigentlich auch Michael klar gewesen sein. Warum fühlte er sich berufen, plötzlich über sich selbst zu sprechen? Wollte er mir mitteilen, dass auch er mal gut genug ausgesehen hatte, um zu wissen, wie es sich anfühlt, das Sexualobjekt eines anderen Mannes zu sein? Oder wollte er mir mitteilen, dass er genau wusste, wie ich mich fühlte?
Roger nickte Michael zu. Die beiden waren sich einig, dass sie diese Geschichte voll nachvollziehen konnten. Hier gab es nichts Überraschendes. Schublade auf, meine Geschichte rein: Fall abgeschlossen. Ich fand dieses Empathie-Surrogat äußerst irritierend, auch wenn ich mich zu diesem Zeitpunkt schon fast daran gewöhnt hatte.
Über die inneren Beweggründe für diese Reaktion kann ich nur spekulieren. Aber ich habe dieses Verhalten auch schon oft an mir selbst beobachtet. Statt zu fragen, ob sich die beiden Situationen ähnlich anfühlen, wird einfach davon ausgegangen. Die Folge ist ein geäußertes und gefühltes, aber leider oft falsches Verständnis für das nicht selbst Erlebte. Dieses Pseudo-Verständnis verhindert wirkliches Verstehen, da ich als Zuhörer in meinen eigenen Vorstellungen gefangen bleibe. Nichts Geringeres ist denn auch der versteckte Sinn dieses Verhaltens: indem ich die Erfahrung des Anderen in das Bett meiner eigenen lege, entlaste ich mich vor. Ich muss nicht mehr wirklich zuhören und mich nicht bedroht fühlen. Ich erspare mir den Stress des Unbekannten und kann beruhigt bleiben: hier werde ich nicht erschüttert. Wirkliche Nähe entsteht so leider nicht.
Wenn das mit mir gemacht wird, spüre ich immer, wie mir die Deutungshoheit über meine eigene Geschichte anfängt zu entgleiten. Es droht ihr, keine einzigartige mehr zu sein. Sie wird nivelliert und trivialisiert. Ich sehe mich dann unter akutem Zugzwang zu beweisen, dass sie es wert ist, ganz gehört zu werden. Um originell zu sein, überschlage ich mich jetzt, übertreibe, spitze zu, spule ungebührlich vor. Ich will meine Geschichte dem Fahrwasser meiner Zuhörer entreißen und entferne mich immer weiter von meiner eigenen Wahrheit, um Andere mir ihr zu erreichen.
"Oh, dem hätte ich so auf die Fresse gehauen!"
Michael rastete jetzt richtig aus. Ich hatte es geschafft. Bis heute finde ich es fast schon unheimlich, wie reflexartig praktisch alle Männer, denen ich meine Geschichte erzähle, beim Knöchelgriff Gewaltfantasien von sich geben. Da werden Nasen, Kiefer, Finger gebrochen, Schultern ausgerenkt und glitschige Körper gegen Wände geworfen. Auch Michael und Roger bildeten da keine Ausnahme. Ihre Entrüstung war echt und spürbar. Sie identifizierten sich mit mir. Sie spürten den Angriff auf meine Würde und mein Selbstbestimmungsrecht tief in sich. Sie reagierten. Aber leider mit den falschen Reflexen. Zwar scheint es uns Männern prinzipiell möglich zu sein, uns als Opfer der Sexualität eines anderen Mannes zu denken. Diese Vorstellung löst aber leider so starke Abwehrgefühle aus, dass wir der Ohnmacht und dem Ausgeliefertsein in uns nicht nachspüren können. Statt zu fühlen und mitzuleiden, ist es uns erträglicher zu handeln. Also schreiten wir zur imaginären Zerstörung des Aggressors.
Wer auf Mitgefühl von uns hofft, sollte das nie vergessen: jegliche Identifikation mit einem Opfer wird von uns intern als Schwäche verbucht. Jegliches Leid – und damit auch Mitleid – wurde versucht, uns von Unseresgleichen auszutreiben: Wir sollen und dürfen nicht leiden, bis wir es tatsächlich nicht mehr ganz können. Denn ein Indianer kennt keinen Schmerz. Oder zumindest nur den, den er anderen zufügt.
Interessanterweise hatte ich selbst in beiden Situationen in der Sauna keinerlei Aggressionsregungen verspürt. Dabei sind mir physische Konfrontationen durchaus nicht fremd. Ich habe andere Männer schon gepackt, geschubst und in meiner Jugend auch geschlagen. Ich war nie wehrlos. Aber in der Sauna hatte ich nicht mit Gewalt oder ihrer Möglichkeit reagiert, weil ich mich in keinster Weise körperlich bedroht gefühlt hatte. Mein Peiniger hatte mir keine Angst gemacht. Die Bedrohung, die von ihm ausging, war dafür viel zu subtil und uneindeutig gewesen.
Das war aber anderen Männern oft schwer zu vermitteln. Und weil ich diese übertriebene und – aus meiner Sicht – völlig unrealistische Reaktion schon so oft erlebt hatte, musste ich lachen. Michael und Roger schauten mich entgeistert an. Wirklich lustig war die Situation eigentlich nicht. Trotzdem lachten sie bald mit. Es war meine Geschichte und ich gab ihnen dazu die Erlaubnis. Genau wie Aggressionen hilft auch Lachen bei der Bewältigung von Angst – vor allem gemeinsames. Also schwankten wir von einem Extrem ins andere. Wir lachten aus Hilflosigkeit, aus Überforderung und in völliger Selberverkenntnis. Wir so oft in unserm Leben. Aus Verlegenheit, aus Unsicherheit und aus Selbstschutz lachen wir unser Männerlachen. Solange wir lachen, weinen wir nicht. Und solange wir lachen, leiden wir nicht. Als ob das Lachen an sich – kraft seiner Schwingungen – den Schmerz des Anderen von uns fernhalten kann.
Heute weiß ich, dass mich dieses Lachen immer gestört hat. Es war eine lautstarke Weigerung, mich zu verstehen und mit mir mitzufühlen – auch und vor allem von mir selbst. Es hatte nichts Befreiendes, sondern vernebelte nur das Terrain. Diese Form der Interaktion fühlte sich immer an wie ein Selbstgespräch, ein Spiel mit dem Spiegel: ohne Erkenntnis und Chance auf Nähe.
Die lachend vorgetragene Aggression empfinde ich denn auch im Rückblick als das ultimative Distanzierungsverhalten: komm mir bloß nicht zu nahe mit deinem Scheiß! Und irgendwie liegt darin ein implizierter doppelter Vorwurf: Warum hast du nicht genauso reagiert wie ich es offensichtlich in dieser Situation getan hätte? Und zum anderen: Jetzt nimm das doch nicht so ernst! Lach dein Unwohlsein einfach weg. Ein Indianer kennt keinen Schmerz…
Natürlich weiß ich, dass das nicht so gemeint war. Keiner meiner männlichen Freunde oder Bekannten hat mir je explizit meine Untätigkeit in der Sauna vorgehalten. Und ich weiß, dass ihre stellvertretende Gewalt einzig der Selbstvergewisserung und Stabilisierung des eigenen Egos diente. Aber keinem schien es je in den Sinn zu kommen, dass durch den Kontrast zwischen ihrer imaginierten und meiner tatsächlichen Reaktion mein Ego destabilisiert werden könnte. Ich begann an mir zu zweifeln und fand mich in der Situation eines Geisterfahrers: war ich schwach also falsch oder waren die anderen einfach weltfremd?
Ich glaube, die schiere Anzahl dieser Reaktionen hat dafür gesorgt, dass ich mich zunehmend isoliert gefühlt habe. Vielleicht habe ich die Geschichte deshalb immer wieder erzählt: verzweifelt suchte ich nach Mitmännern, die sich mit meiner Hilflosigkeit solidarisierten. Ich hätte mir wohl einfach mal gewünscht, dass einer nicht ausrastet und nicht lacht. Und mir einfach sagt, dass er in dieser Situation genauso reagiert hätte: nämlich gar nicht.
Nichts macht einsamer, als sich unverstanden zu fühlen.
„Der Knöchel? Es ist doch offensichtlich viel schlimmer, wenn dir jemand an den Schwanz fasst!“
Für Michael war der Fall klar: meine Gefühle standen auf dem Kopf. Angesichts der Heiligkeit des männlichen Genitals konnte es für einen Mann nichts Schlimmeres geben, als dass ein anderer Mann diesen Tempel kraft seiner Hände schändet. Ich hatte den beiden zuvor zu erklären versucht, welch traumatischen Folgen der Griff an meinen Knöchel gehabt hatte und dass dies nichts im Vergleich zu dem direkten Griff nach meinem Penis gewesen war. Davon wollten die beiden aber nichts hören. Ohne jegliche Selbstzweifel erklärten sie mir, wie sie sich gefühlt hätten und warum ich mich doch auch so fühlen sollte. Es war wie ein Gespräch zwischen Taubstummen: ich konnte nur schlecht über meine verwirrenden Gefühle sprechen und die beiden konnten nicht richtig zuhören. Wir waren alle drei ahnungslos und überfordert.
Im Nachhinein kann ich ihnen diese Haltung deshalb nicht verübeln. Was ich erzählte, machte nicht wirklich Sinn, bzw. keinen, den wir in dieser Konstellation hätten entziffern können. Es war unorganisiert und undurchdacht. Und natürlich war es auch kontraintuitiv, wenn man die beiden Erlebnisse einzig und allein auf der Oberfläche vergleicht. Bei Belästigung gelten nun einmal nicht nur harte Fakten: wer hat was gesagt oder wen wo wie angefasst, sondern auch die Abfolge der Ereignisse, die vorherige Beziehung und der soziale Kontext.
Im Gespräch selbst wurde ich aber zunehmend verzweifelt. Ich erzählte diese Geschichte doch, weil ich auf Verständnis hoffte und auf Hilfe, sie einzuordnen. Ich wollte mit ihnen gemeinsam erforschen, warum ich so fühlte. Aber die Basis dafür wäre eine umfassende und wertungsfreie Anerkennung meiner Gefühle gewesen. Ich hatte das ja schließlich erlebt, nicht sie. Ich wusste, wie es sich anfühlt, wenn auch nicht wirklich warum es sich so anfühlte. Ich war also als Fragender an sie herangetreten, wurde aber wie ein Ahnungsloser behandelt. In mir spürte ich die Wut derer hochkommen, die nur ein Gefühl haben, aber keine Argumente dafür. Das Recht und die Rationalität sind auf der anderen Seite, und sie klingen so gut. Aber trotzdem erkannte ich mich darin nicht wieder. Was für Michael ein intellektuelles Spiel war, war mir ein persönliches Anliegen. Anders als ich war er nicht aufgeregt und nicht aufgedreht. Ganz ruhig argumentierte er und stellte mich lässig ins Unrecht. An einem echten Austausch war er nicht interessiert. Er dozierte aus seinem intakten Paradies. Es ging ihm nicht darum, zu verstehen oder mir zu helfen, sondern einzig und allein darum, Recht zu haben.
So wie mir mit ihm, musste es schon vielen mit mir ergangen sein. Ich erkenne mich in ihm, und es ist mir peinlich. Ich weiß nun, dass ich vielen Menschen in Gesprächen nicht gerecht geworden bin. Ich habe sie mit meiner rechthaberischen Ignoranz ins Unrecht gestellt, und tue es manchmal noch immer. Ich frage mich, warum es uns so schwerfällt, zuzuhören und Betroffenheit auszuhalten. Warum nur glauben wir die Antworten zu haben auf Fragen, die wir nicht verstehen? Ich wünschte, ich könnte manchmal einfach zuhören, den Gefühlen anderer – und auch meiner eigenen in deren Angesicht – Raum geben und sie unkommentiert stehenlassen. Aber mein Rechthabenwollen kommt mir immer wieder in die Queere. Wen ich damit eigentlich überzeugen will, ist mir nicht immer ganz klar. Wahrscheinlich nur mich selbst. Damit diese andere Weltsicht bloß nicht in mich einsickert. Manche Paradiese sind leider sehr hartnäckig. Sie wollen erhalten werden – um jeden Preis. Auch wenn das den anderen den Kopf kostet.
Ich glaube, irgendwann schrie ich Michael und Roger nur noch an. Ich war erschöpft und hatte eine riesige Beule auf der Stirn. Manche Wände sind Mauern.
„Ich würde da jetzt nicht so ein Drama draus machen…“
Michael klang überhaupt nicht herablassend oder ungeduldig. Meinen Fassungsverlust nahm er relativ gefasst zur Kenntnis. Einer muss ja einen kühlen Kopf bewahren. Aber es war ihm sichtlich unangenehm, dass er sich plötzlich mit so einem hysterischen Mann auseinandersetzen musste. Mit einer Frau in diesem Zustand hätte er sicher weniger Probleme gehabt. Das gehört schließlich zu deren putzigem, unergründlichen Wesen. Man liebt sie ja unter anderem für ihre unverständlichen Gefühlsausbrüche, weil uns genau genommen unverständlich ist, warum sie überhaupt Gefühle für uns haben. Aber bei Männern ist das anders. Ihre unkontrollierten Gefühlsregungen erinnern uns – oft mit Schrecken – daran, was tief in uns schlummert und in schwachen Momenten aus uns herausbrechen kann.
Ich werde meine Wut und Hilflosigkeit an diesem Tag nie vergessen. Es war mir unbegreiflich, wie ich mich beim Erzählen dieser Geschichte fast wieder genauso hilflos fühlte wie in der Sauna selbst. Ich war am Ende der Sprache angekommen. Und die Tatsache, dass Michael und Roger da nicht waren, trieb mich in den Wahnsinn. Ich empfand ihre wohlmeinende Distanziertheit als Provokation und fand die beiden dumm und arrogant. Ich weiß, dass das selbstgerecht ist. Manchmal halte ich mich für etwas Besseres, weil ich glaube, etwas verstanden zu haben. Aber ich war und bin keinen Deut besser als die beiden. Ich hätte an ihrer Stelle genauso reagiert. Ich sah und sehe mich in Ihnen. Bis heute. Ich bin sie.
Und ich hatte einfach keine Lust mehr auf diese Selbstgespräche.
*
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass es nach diesem Sonntagnachmittag eine bewusste Entscheidung gab, hinaus in die Welt zu gehen und anderen besser zuzuhören, als es mir selbst widerfahren war. Aber eins wusste ich genau: so hilflos und ausgeliefert wollte ich mich nie wieder in einem Gespräch fühlen. Ich wollte endlich verstehen, was genau mit mir passiert war.
Diese Geschichte beiseite zu schieben wurde auch dadurch unmöglich, dass wenige Wochen später auf Twitter der #metoo-Tsunami losbrach. Zuerst brachte ich das gar nicht so richtig mit mir in Verbindung. Es ging da ja um den Machtmissbrauch berühmter Leute, Vergewaltigung, schwere Formen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Mit diesen Geschichten konnte ich mich überhaupt nicht identifizieren. Ich war ja keine Frau – ergo kein Opfer. Und erst recht nicht ein survivor. Mein Leben war ja nie in Gefahr gewesen.
Die wenigen #metoo-Geschichten von Männern, die ich las, kamen mir irgendwie komisch vor. Erzwungener Oralsex im Büro. Fummelüberfalle auf der Restauranttoilette. Stellt euch doch nicht so an, dachte ich mir. Weniger weinerlicher Ton, mehr harte Eier. Ich glaube, ich hatte für meine Mitmänner genauso wenig Verständnis wie für mich selbst. Ihr Leid blieb mir so unzugänglich wie mein eigenes. Es war mir einfach zu abstrakt. Und leider bekamen diese Geschichten auch keine Gesichter, keine Stimme. Ich habe sie nämlich gesucht, diese Männer mit einer ähnlichen Geschichte. Nicht online oder in Selbsthilfegruppen, aber in meinem Freundes- und Bekanntenkreis, auf Partys und in Zeitschriften. Aber ich habe sie nicht gefunden.
Mit Frauen war das – leider – ganz anders. Schon öfters hatten mir einzelne als Reaktion auf meine Geschichte von eigenen ähnlichen Erlebnissen erzählt. Eine Ahnung, wie verbreitet sexuelles Fehlverhalten von Männern ist, hatte ich dadurch bekommen. Aber wirklich eingesickert war das noch nicht. Ich musste erst mit voller Fahrt auf den Eisberg auflaufen, um zu verstehen, dass die kleine Spitze, die ich gesehen hatte, wirklich nur die Spitze war.
Diese Kollision fand in einem Sprachkurs statt, den ich im Herbst leitete. Oft ist die Männerquote in Sprachkursen niedrig, aber in diesem saß zufälligerweise kein einziger. Auf eine komische Art hat mir das das Gefühl gegeben, als ob wir „unter uns“ wären. Zwar sahen alle anderen einen Mann vor sich, weshalb ich wahrscheinlich der einzige im Raum war, der dieses Gefühl hatte. Trotzdem hat mir das große Sicherheit gegeben. Ich musste keine Angst haben, ausgelacht oder belehrt zu werden. Und ich musste nichts beschönigen und nichts erklären.
Der Kurs war auf einem relativ fortgeschrittenen Niveau, und jemand schlug vor, dass alle einen längeren Text schreiben sollten, gerne etwas Persönliches, um die anderen Teilnehmerinnen besser kennenzulernen. Gemeinsam wurde überlegt, wie diese Texte aussehen sollten und was passende Themen sein könnten. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich gerade – inspiriert von #metoo und gedrängt von meiner damaligen Freundin – an dem Text, der später unter dem Titel „Warum habe ich mich nicht gewehrt?“ in der EMMA erschien. Er war als verspätete Antwort für Michael und Roger verfasst worden. Ich hatte endlich meine wirren Gedanken und Gefühle geordnet und ein glättendes Narrativ erfunden. Ganz viele Zweifel und Unsicherheiten waren verschwunden und ich glaubte mich jetzt in einem Zustand der Erleuchtung.
Von daher bin ich mir sicher, dass ich aus einer kruden, mir eigenen Mischung von Mitteilungsbedürfnis, Geltungssucht und narzisstisch verblendetem Stolz auf dieses literarische Erzeugnis selbiges als Inspirationsquelle zur Verfügung stellte. Ohne große Erklärung – die Spannung wollte ja gewahrt bleiben – gab ich den knapp 10 Teilnehmerinnen den Text als Hausaufgabe. Zu diesem Zeitpunkt hatten ihn nur Freunde und Bekannte gelesen. Ich war ziemlich nervös, mich vor einem relativ großen Publikum mit einer so privaten Geschichte und noch dazu in einem professionellen Kontext zu exponieren.
Als ich am nächsten Tag in den Kurs kam, herrschte eine seltsame Stimmung. Betroffenheit war sicherlich da, aber Interesse schien zu überwiegen. Es wurden ein paar höfliche Fragen gestellt, die zunehmend persönlicher wurden. Keine Sekunde aber fühlte ich mich unwohl. Keine Frage erschien mir unpassend, ignorant oder gar bevormundend. Bald redeten wie Freunde miteinander, wie Vertraute. Ich fühlte mich nicht anderes und nicht bedroht. Und den anderen schien es genauso zu gehen. Wir waren nun wirklich „unter uns“.
Relativ zügig kamen wir von meinem Erlebnis zu den Texten, die die Teilnehmerinnen selbst schreiben wollten. Ich verteilte Zettel mit helfenden Fragen zum Planen einer eigenen Geschichte und teilte den Kurs in kleine Gruppen ein. Als ich nach einiger Zeit anfing umherzugehen, konnte ich meinen Ohren kaum trauen: in jeder Gruppe wurde Geschichten von sexueller Belästigung und Gewalt, Missbrauch und Vergewaltigung erzählt. Die Geschichten spielten in Firmen und in Familien, in Schulen und in der Öffentlichkeit – und immer waren die Täter Männer.
Ich setzte mich daneben und hörte einfach zu. Nur manchmal half ich, wen jemand nach Wörtern suchte. Aber niemand erwartete von mir, dass ich etwas Kluges sagte. Niemand erwartete Lösungsvorschläge. Vor allem nicht ich selbst. Von mir. Zumal ich viel zu bewegt war, um irgendetwas Kluges von mir zu geben. All die Geschichten, die ich vorher nur gelesen hatte, bekamen jetzt ein Gesicht und eine Stimme. Zum ersten Mal konnte ich sie hören und fühlen. Und ich spürte wie wahr sie waren.
Ich glaube, an diesem Tag verstand ich endlich, was ich mich lange geweigert hatte zu akzeptieren: nämlich wie umfassend wir Männer Frauen benutzen, missachten und verletzten. Wir rücksichtslos wir durchs Leben gehen und unsere primitiven Wünsche gegen alle Widerstände durchsetzen. Mein ganzes Leben hatte ich mich nicht nur gegen diese Einsicht gewehrt, sondern hatte dieses System mit am Leben gehalten. Ich war ein Teil des Problems, gegen das ich mich komplett abgeschirmt hatte. Wie die Titanic hatte ich mich auf unsinkbar gepanzert und spürte jetzt, wie Wasser durch den ersten Riss kam. Und ich ließ es einfach laufen. Ich ging nicht weg und plusterte mich nicht auf.
Es dämmerte mir, dass mein eigenes Leid der Eintrittspreis in diese mir unsichtbare Welt gewesen war. Niemand hier hätte vor mir und mit mir über diese Erfahrungen gesprochen, wenn ich nicht in Vietnam von meinesgleichen aufgerüttelt worden wäre. Ohne eigenes Zutun, war mir ein Schlüssel gegeben worden, mit dem ich anfangs überhaupt nichts anfangen konnte. Und jetzt zeigten mir die Frauen in diesem Klassenzimmer, welches Geschenk das eigentlich gewesen war. Es war, als ob sie mir in meinem Elternhaus eine Tür gezeigt hätten, an der ich zuvor immer blind vorbeigeschlichen war. Diese Tür konnte ich jetzt öffnen. Nur reingehen musste ich noch selbst.
Als es zur Pause klingelte, dankte ich allen für ihren Mut und ihre Aufrichtigkeit. Ich sprach kurz darüber, wie sehr mich ihre Geschichten bewegt hatten und wie leid es mir tat, was sie erlebt hatten. Dann ging ich zur Tür. Ich musste ins Lehrerzimmer, zu den alten Kollegen. Ich wollte ihnen doch erzählen, was ich heute gehört hatte. Auch wenn ich keine Vorstellung hatte, wie ich das erzählen sollte und ob sie mich überhaupt verstehen würden.
Aber meine Klasse ließ mich nicht gehen. Sie luden mich ein, die Pause mit ihnen zu verbringen und weiterzusprechen. Sie wollten keine Pause machen. Dafür war keine Zeit.
Ich war ihnen sehr dankbar für das Angebot und am liebsten wäre ich für immer bei ihnen geblieben. Ich fühle mich einfach wohl mit ihnen. Verstanden und sicher. Aber ich wusste, dass ich irgendwann wieder losmusste. Denn am Ende des Tages waren wir nicht gleich. Sie waren nicht wie ich, und ich würde nie so sein können wie sie. Ich war als Mann unter Männern aufgewachsen, ich würde hier nie reinpassen, würde immer nur geduldet sein. Mehr als ein Unterschlupf war das nicht.
Aber auf der anderen Seite: Dinge können sich schnell ändern. Am Tag zuvor war ich ja noch ihr Lehrer gewesen und sie meine Schülerinnen. Und jetzt waren sie meine Lehrerinnen – und ich ihr Schüler.
*
Als ich zum ersten Mal das Wort Migrationstrauer hörte, fühlte sich das für meinen Gemütszustand sofort passend an. Jeder Mensch, der seine Heimat dauerhaft verlässt oder verlassen muss, leidet unter einer mehr oder weniger starken Verlusterfahrung. Das fängt bei Reisenden und Austauschstudierenden mit leichtem Heimweh an und kann bei Geflüchteten schwere psychische Belastungsstörungen zur Folge haben. Seit der Jahrtausendwende spricht man dabei auch vom Odysseus-Syndrom. Dieses ist gekennzeichnet durch chronische Stresssymptome wie Schlaflosigkeit, Depressionen, Angstzuständen und sogar Realitätsverlust. Die Symptomatik ist damit der von Trauenden sehr ähnlich. Und wie könnte es auch anders sein?
Es gibt uns Menschen Sicherheit, uns die Zukunft als eine Wiederholung schöner vergangener Momente zu imaginieren. Und wenn diese Hoffnung abgeschnitten wird, sei es durch Tod oder Vertreibung, zerbricht etwas in uns. Betrauen können viele Dinge: Landschaften und Städte, Menschen und Gruppen, ja sogar Gerüche und Gewissheiten. Unsere Psyche geht dann durch verschiedene Phasen: Nicht-wahrhaben-Wollen, Verwirrung, aufbrechende Emotionen wie Wut und Hilflosigkeit, die Realisierung einer Einsamkeit und dem Suchen nach einem neuen Bezug zur Welt.
An diesem Punkt befand ich mich jetzt. Die Männerwelt, in der ich aufgewachsen war und in der ich mich zuhause gefühlt hatte, war mir unbewohnbar geworden. Ich fühlte mich dort fremd. Die mir vertrauten Sitten und Ausdruckswege erfüllten mich zunehmend mit Ekel. Die neue Welt, die mir gezeigt worden war, war mir jedoch noch unvertraut und auf unabsehbare Zeit unerreichbar. Ich war jetzt ein Suchender: ein zum Umherirren Verdammter wie Odysseus es gewesen war. Anders als er, konnte ich jedoch nicht zurück. Ich musste etwas Neues für mich finden: eine neue Heimat, ein neues Paradies.
Ich verstand lange nicht, wie einsam und verloren ich in dieser Zeit tatsächlich war. Vielmehr fühlte ich mich wie ein Entdecker. Eine ganze Welt lag vor mir und wartete darauf, verstanden zu werden. Angst hat mir das damals keine gemacht, obwohl es das hätte tun sollen. Was es zu entdecken gab – sowohl um mich wie auch in mir selbst – war nämlich alles andere als nur erfreulich.
An Weihnachten besuchte ich meine Familie in Karlsruhe und ging auch zu meiner Tante. Sie wohnte mit ihrem neuen Freund wieder bei meiner Großmutter im Haus und kümmerte sich um sie. Eigentlich war meine Tante ja eine Abenteuerin und Lebenskünstlern. Sie war jung von zuhause weggegangen, hatte in verschiedenen Städten in Deutschland und Italien gelebt, mit wechselnden Partnern. Seit ich mich erinnern konnte, war ihr Leben immer instabil gewesen. Sie war immer ein Blatt im Wind gewesen, und alle ihre Versuche, eine neue Heimat zu finden, waren gescheitert.
In ihren Wohnungen und Häusern war ich regelmäßig ein- und ausgegangen. Zuerst mit meinen Eltern, später alleine. Wir waren immer gut miteinander ausgekommen. Während sie kochte, durchstöberte ich manchmal ihre Bücherregale, die voller exotischer Raritäten waren. Texte von Konstantin Wecker standen da, anarchistische italienische Lyrik, pazifistische Briefwechsel und viele andere Werke der Gegenkultur, die es weder in meine Regale noch die meiner Eltern geschafft hätten.
Ich hatte diese Bibliothek schon zahlreiche Male unter die Lupe genommen. Aber zum ersten Mal sah ich nun bewusst eine Sektion, die mir bisher entgangen war. Ganz hinten in der Ecke, rechts oben, stand eine Gruppe völlig vergilbter und verstaubter Bücher über Feminismus, Gewalt gegen Frauen und Frauenrechte. Die Schrift auf den Einbänden war kaum zu lesen, abgenutzt von Zeit und Händen. Ich bin mir sicher, dass sie schon immer dort gewesen waren. Für mich und alle sichtbar hier im Wohnzimmer standen sie zwischen den anderen Büchern, zwischen den anderen Geschichten. Es kam mir unglaublich vor, dass ich sie noch nie gesehen hatte. Aber wahrscheinlich hatte ich sie einfach nicht sehen können: auf diesem Farbspektrum war ich bisher blind gewesen.
– Warum hast du denn diese Bücher, fragte ich sie.
Ich weiß nicht, ob etwas an der Art, wie ich die Frage stellte, oder an meinem Ton anders war als sonst. Aber ihre Antwort traf mich völlig unvorbereitet.
– Weil ich mit 27 vergewaltigt wurde, sagte sie.
Sie sagte das mit der Beiläufigkeit einer Frau, die schon viel erlebt hatte. Und ich wünschte, dass ich mit der Sicherheit eines Mannes hätte antworten können, der schon viel gehört hatte. Aber ich stand noch ganz am Anfang meiner Reise.
Es ist erstaunlich, was einem Menschen erzählen, wenn man richtig fragt und bereit ist, zuzuhören. Und es ist erstaunlich, wie viel Wut und Hilflosigkeit man auslösen kann, wenn man das nicht tut. Die Wahrheit ist manchmal so einfach. Und einfach ist sie erzählt. Sie aushalten ist allerdings oft schwerer. Vor allem wenn unsere eigenen Gefühle den Gefühlen des bzw. der Erzählenden den Raum wegnehmen.
Betroffen schaute ich sie an und wusste nicht, was ich tun sollte. Im Nachhinein weiß ich gar nicht mehr, was mich mehr schockte: dass sie in ihrem Leben sexuelle Gewalt erfahren hatte oder meine Naivität anzunehmen, dass ihr das erspart geblieben sei.
Komm, sagte sie, das Essen wird kalt.
Ich folgte ihr in die Küche und wir aßen gemeinsam zu Abend. Und währenddessen erzählte sie mir, was ihr als junge Frau im München der 80er Jahre passiert war: wie sie einen Musiker einige Tage bei sich wohnen ließ, wie plötzlich eine Pistole auf dem Tisch lag, wie er sie am ganzen Körper biss und sie keinen Ton von sich gab, wie er danach einschlief, wie sie danach zur Nachbarin ging und duschte, wie sie die Polizei rief und wie der Mann letztlich freigesprochen wurde, weil sie sich nicht gewehrt hatte.
Und wie er sie endgültig vertrieb aus einem Paradies, das – anders als meines – nie wirklich eine Chance gehabt hatte.